Latex & Co

6. August 2019
Verwandlung im roten Kleid

Meine zweite Haut

Das sichtbare Mieder im viktorianischen Zeitalter, der Petticoat in den Fünfzigern, die Gothic Szene in den Achtzigern oder Lack-Kleidung in den Neunzigern – jede Epoche hat ihre Stilrichtung, die zu jenem Zeitpunkt moralische Empörung hervorrief – und somit als obszön galt. Heute, da tradierte Moralvorstellungen mehr und mehr dem liberalen Geist weichen, mag noch vereinzelten Stilen wie Latex ein Hauch des Obszönen anhaften. Doch selbst hier hat sich längst der Fashion-Faktor etabliert. Das Material und diese so besondere Ästhetik geben das Idealbeispiel für jene „zweite Haut“ – und zwar nicht nur im Sinne von „eng anliegend“. Es verwandelt mich in einen anderen Menschen, wenn ich es zulasse.

Unser Model Caroline (24) ist Biochemikerin, lebt und studiert in Kiel und trägt leidenschaftlich gerne alternative Modestile.

Wie wurde Dein Interesse für spezielle Moderichtungen geweckt?

Ich selbst würde mich als eine sehr vielseitige und ausgefallene Person beschreiben. Ich probiere mich gerne aus und suche immer nach neuen Ideen. Da ich einen dezenten Hang zum Extravaganten habe, spiegelt sich das auch in meiner Kleidung wider. Viktorianische Romane sowie Comics und japanische Anime haben dabei großen Einfluss auf mich ausgeübt.

Wie bist Du mit Latex – im übertragenen und im buchstäblichen Sinne – erstmals in Berührung gekommen?

Ich selbst bin tatsächlich physisch – bis auf die Handschuhe im Labor – das erste Mal mit Latex beim Plage Noire Festival am Weissenhäusser Strand in Kontakt gekommen. Und was soll ich sagen, es war Liebe auf den ersten Kontakt.  
Als ich als Model für die Fashionshow des Obscene Store angefragt wurde, war ich sehr aufgeregt, nicht zuletzt weil das Material in der Wahrnehmung vieler Menschen anders vorbelastet ist als im Fashion-Kontext. Zuvor bin ich zwar auch immer einmal bei Instagram über Latex „gestolpert“, hatte aber noch keine Kleidung im echten Leben gesehen oder getragen. 

Kannst Du das Gefühl beschreiben?

Weiblich!…Entgegen der Meinung, dass Latex immer eng auf der Haut anliegt, hatte ich ein Kleid an, welches nicht nur für mich maßangefertigt wurde, sondern ebenso luftig und schwingend war. Ein fantastischer Mädchen-Fashiontraum in Weinrot-Metallic.  

Wie sucht und findet man Menschen, die die Begeisterung für ausgefallene Stile teilen?

Das Internet ist ein gutes Medium. Es gibt viele Gruppen, denen man beitreten kann, um sich auszutauschen. Menschen, die außergewöhnliche Stile mögen, tragen diese auch – das ist zumindest mein Eindruck. Und so lernt man Freunde und wiederum deren Freunde kennen. Lokale Treffpunkte wie der Obscene Store sind auch tolle Möglichkeiten, Leute mit gemeinsamen Interessen zu finden und um andere Stile gemeinsam zu erleben.

Welche Art der Verwandlung geht mit einem vor, wenn man sich ganz speziell „zurechtmacht“, wenn man neue Stile testet oder wenn man außergewöhnliche Materialien wie Latex auf seiner Haut spürt? Ist man in dem Moment jemand anderes?

Auf jeden Fall. Im Kern ist man natürlich immer noch man selbst. Aber die Tagesform kann man sehr gut mit spezieller Kleidung unterstreichen. Beschwingt und frei fühlt man sich in der Rockabilly Mode der Fünfzigerjahre. Melancholie und Tiefgang verbinde ich mit Gothic, Weiblichkeit und Party wiederum perfekt mit Latex.

 

"Latex löst mit Sicherheit unterschiedliche Gefühle aus."

Andreas Schnarr (44) ist gelernter Systemadministrator, Inhaber des Obscene Store und seit zehn Jahren Betreiber eines Latex-Mode-Ateliers in Kiel.

Wie bist Du auf Latex gekommen – und was hat es bei Dir ausgelöst?

Vor ca. 20 Jahren hatte ich das Material als T-Shirt bei jemandem in einer Discothek gesehen und mir daraufhin selbst etwas in diesem Material gekauft. Latex löst mit Sicherheit unterschiedliche Gefühle aus, ich selbst habe festgestellt, dass sich die eigene Körperwahrnehmung ändert: Ich gehe z. B. kritischer mit kleineren Pölsterchen um, die dann plötzlich sichtbar werden. (schmunzelt) Ganz persönlich mag ich den einzigartigen Glanz von Latex, weniger das Gefühl als solches.

Wie ging es weiter?

Mein erster Einkauf war leider von schlechterer Qualität und riss nach dem ersten Tragen. Da das Material nicht unbedingt zu den günstigsten Stoffen gehört, beschäftigte ich mich mit der Reparatur. So kam das Eine zum Anderen, und ich habe mich selbst an den ersten Schnitten und Design-Kombinationen ausprobiert. Meiner Meinung nach hat Kleidung noch nie soviel zum Ausdruck gebracht wie heute. Gerade Latex formt einen Körper enorm. Man kann kleiner oder größer erscheinen, Körperpartien hervorheben oder kaschieren. Natürlich ist Latex auch für den einen oder anderen ein Fetischstilmittel. Aber das Material selbst ist schon längst im Mainstream und in der Popkultur angekommen. Das ungeübte Auge erkennt den Unterschied zwischen Lack, Wetlook und Latex kaum.

Überwiegt der Teil der Kunden bzw. Gleichgesinnten, die auch im Alltag mit ihrer Kleidung ein Statement setzen, oder der Teil der Menschen, den man im Alltag eher nicht mit Latex in Verbindung bringen würde?

Viele tragen Latex wirklich nicht mehr im geheimen Keller, sondern als ganz normale Kleidung auch im Alltag. Was schön ist! Zeigt es doch deutlich, dass eine Stigmatisierung aufgrund einer vermeintlichen Andersartigkeit in unserer Gesellschaft keine Rolle spielt. Unser Kundenanteil ist eine gute Mischung aus Individualisten und Künstlern. Auch Filmschaffende und Opernhäuser gehören dazu, aber eben auch Menschen, die aus verschiedensten Gründen Latex nicht offen tragen können.

Aus einem „Nebenher“ ist ein berufliches Standbein geworden. Wie geht es beruflich in dieser Hinsicht weiter?

Der Umzug vom kleinen Atelier ins Ladengeschäft in der Hamburger Chaussee ist eigentlich noch gar nicht so lange her, und doch werden wir jetzt nochmals umziehen und uns vergrößern müssen, da die Kundenresonanz so unfassbar positiv ist. Im neuen Store können wir z. B. das Angebot auch um Workshops mit dem Material Latex ausbauen. Und wir haben mehrere neue Arbeitsplätze geschaffen.
Ab Ende August findet man uns dann als Teil der Kieler Innenstadtfamilie am Kleiner Kuhberg 18-20 .

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