Viel Gespür für Dimensionen
Fünf Tage konnten wir ihr in Kiel beim Malen zusehen. Marion Ruthardt ist Street Artist. Die Künstlerin aus Rheinhausen bei Duisburg verdient ihren Lebensunterhalt damit, Plätze, Fassaden oder Stromkästen meisterhaft mit Motiven zu versehen. Im Auftrag der Interessengemeinschaft „die holtenauer“ schuf sie ein Pflasterbild mit 3D-Effekt.
Name: MARION RUTHARDT
Beruf: Street Artist
Engagement: Tierschutz
Liebste Festivals: Geldern, Brande/DK
Bester Publikumskommentar: Wer macht das wieder weg?
Webseiten:
https://www.3dstreetart-strassenmalerei.de
Flatterband markiert ihren dreißig Quadratmeter großen Arbeitsplatz vor dem Brauereiviertel. Auf dem Pflaster ein Punkt weißer Wandfarbe, von dem aus fixiert Marion Ruthardt ihr Bild. Im Fachjargon ist das der Sichtpunkt, der eigentliche Dreh- und Angelpunkt ihres Motivs. Mittig stakt ein Zelthering aus Stahl empor. Von ihm laufen Hilfsschnüre über das Pflaster. Sie bilden Diagonalen. Damit plant die Künstlerin die Verzerrung des Motivs. Denn ihre Kunst lebt von der perfekten Illusion einer dreidimensionalen Szenerie. Dazu müssen die Elemente auf dem gut sieben Meter tiefen Bild länger und schräger gemalt werden als in einer klassischen Ansicht.
Gespür für Dimensionen
Das weckt Irritationen beim Publikum. Ein Junge wispert seiner Mutter zu: „Kann die nicht malen?“ Er wird hochgehoben, darf durch Marions Arbeitslinse sehen, die mittels Stativ auf Augenhöhe angebracht ist. Von dort bestaunt er die Anamorphose. Vom Autofahren kennen wir diesen Effekt. Aus Perspektive eines heranfahrenden Pkw wirken Zebrastreifen plastischer als sie tatsächlich sind. Unser Gehirn unterstützt zudem das Auge darin, etwas Bekanntes daraus zu machen. „Die Jüngeren lassen sich vom Computer beim Umrechnen ihrer 2D-Skizze in 3D unterstützen. Aber die perfekte Illusion zu schaffen, bleibt das Geheimnis meisterlichen Handwerks“, weiss Marion aus Jahrzehnten eigener Berufserfahrung.
In Deutschland lebt bloß eine Handvoll Menschen von Aufträgen für Straßenmalerei. Eine davon ist Marion: „Mit Motiven alter Meister lässt sich etwas Wurfgeld verdienen. Sie sind tief im kollektiven Gedächtnis verankert. Sobald Menschen ein beliebtes Motiv wiedererkennen, klingeln Münzen auf dem Teller. Anfangs kopierte ich Spitzweg, Caravaggio, Dürer in klassischer 2D Straßenmalerei. Das Aufkommen von Social Media jedoch befeuerte die 3D Kunst. Plötzlich erhielten Handyfotos hunderttausende von Klicks und verschafften uns weltweit Aufträge und Einladungen zu Festivals.“
Auf der Straße
Bei seiner Anfrage gab der Verein von Gewerbetreibenden aus der Holtenauer Straße den Arbeitstitel „Aufenthaltsqualität“ vor. In der verkehrsreichen Kieler Einkaufsstraße sind Plätze rar, an denen Menschen verweilen können, ohne etwas zu konsumieren. Sie komme sehr gerne, liebe die Küste, bestätigte Marion Ruthardt ohne zu Zögern den Auftrag. Gewöhnlich dauert ihre Saison von März bis Oktober.
Bilder im Internet zeigen sie malend auf der verschneiten Kölner Domplatte, auf dem Venice Airport von Sarasota in Florida, den Festivals von Wilhelmshaven, Bangkok, in den Niederlanden und Dänemark. Ein fester Termin in ihrem Kalender ist der internationale Straßenmalwettbewerb in Geldern. Er findet seit 1979 im Sommer immer am letzten Wochenende der Schulferien statt. Rund 600 Menschen ab vier Jahren, gestaffelt nach Altersklassen, nahmen zuletzt daran teil. Marions Heimatort liegt nur knapp 40 Kilometer entfernt. Geldern weckte einst ihre Leidenschaft für Straßenmalerei. Irgendwann schmiss sie ihren Job und stieg ganz auf das unstete Leben als Straßenkünstlerin um.
An ihrem letzten Arbeitstag in Kiel malt Marion ein Schachbrett mit Spielfiguren in die vorderste Bildebene. „Die sind nah am Sichtpunkt – eine Herausforderung!“ Derweil sonnt sich Julia, ihre schwarz-weiße Akitahündin, auf der rustikalen Holzbank im Bild. Passanten zücken Kameras. Schwer zu sagen, was wirklich ist: Die Bank oder die Hündin oder beides? Diese mittels Wandfarbe gemalte Illusion hält wohl ein paar Wochen. Marion ist mit Julia bereits wieder unterwegs.
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