Geht häusliche Gewalt uns alle an? Ja! Wenn alle hingucken, kann nichts bagatellisiert werden.

23. April 2024
Häusliche Gewalt geht uns alle an!
Nicht weggucken bei häuslicher Gewalt! (Foto: adobe stock)

DAS MITERLEBEN VON HÄUSLICHER GEWALT DRINGT IN DIE ENTWICKLUNG DER JUNGEN KINDER UND HINTERLÄSST ZUM TEIL FOLGENSCHWERE ENTWICKLUNGSSPUREN.

Ein Interview mit Lidija Baumann, Diplom-Psychologin in der Fachberatungsstelle des Kinderschutz-Zentrums Kiel (zuständig für Kiel, Kreis Plön & Rendsburg-Eckernförde)

Häusliche Gewalt erzeugt eine familiäre Atmosphäre von Bedrohung. Diese stellt einen permanenten traumatischen Stress für das sich in der Entwicklung befindende Nervensystem junger Kinder dar und hat Folgen für die gesunde Entwicklung basaler Systeme von Beruhigung und Stressverarbeitung.

WITC: Was bedeutet Häusliche Gewalt?
Lidija Baumann: Wir verstehen unter häuslicher Gewalt hauptsächlich die Gewalt in der Partnerschaft. Dabei wird in den meisten Fällen die Gewalt vom Mann an der Frau ausgeübt. Damit will ich natürlich nicht leugnen, dass auch Frauen ihre Männer schlagen. Statistisch gesehen ist dies aber wesentlich geringer. Hier im Kinderschutzzentrum sind wir in erster Linie für Eltern zuständig. Also wenn die Frauen keine Kinder haben, dann gibt es andere Beratungsstellen als unsere. Lange wurde geleugnet, dass Gewalt zwischen den Partnern eine direkte Auswirkung auf die Kinder hat. Aber natürlich erleben Kinder Gewalt, alleine durch das Zugucken – es ist genauso schädlich, als wenn das Kind selber körperliche Gewalt oder Misshandlung erleben würde. Gerade junge Kinder empfinden sich psychisch noch als Teil der Mama. Für sie ist es gleichbedeutend, ob die Mama misshandelt wird oder sie selber. In dem Moment ist der Gewalt ausübende Elternteil hoch bedrohlich und das junge Nervensystem wird damit so gestresst, dass die gesunde psychische Entwicklung dadurch beeinträchtigt sein kann.

Wieviel Mut braucht es, sich Hilfe bei Häuslicher Gewalt zu holen?
Das Thema häusliche Gewalt ist in unserer Gesellschaft immer noch mit viel Scham behaftet. Die Menschen, die Gewalt erleben, schämen sich. Hinzu kommt, dass Gewalt in der Partnerschaft ein oft schleichender Prozess ist. Vielleicht beginnt es mit Isolation oder mit Entwertung auf psychischer Ebene, die Gewaltspirale steigert sich dann nach und nach. Und die Mütter schämen sich dann, es jemandem zu erzählen, was zu Hause los ist. Kinder wiederum sind unglaublich loyal zu ihren Eltern. Das ist ja eines der stärksten Gefühle eines Kindes zu seinen Eltern. Dass Kinder von der Gewalt zu Hause erzählen, dazu braucht es schon sehr viel. Es bräuchte sehr verlässliche, verbindliche Bezugspersonen, zum Beispiel in Kita oder Schulsozialarbeit oder in der Schule. Diesen Menschen müssten sie wirklich ähnlich vertrauen wie ihren Eltern. Erst dann öffnen sie sich.

Welche Angebote machen Sie?
Zum einen kommen Fachkräfte zu uns, die sich beraten lassen, wenn sie sich Sorgen um ein Kind machen. Wir unterstützen sie dann bei der Gefährdungseinschätzung, aber auch darin, wie sie mit Eltern und Kind in Kontakt treten können.
Dann können sich Familien natürlich direkt an uns wenden. Auch Kinder und Jugendliche haben ein eigenes Beratungsrecht, das heißt, sie dürfen sich beraten lassen, auch wenn die Eltern dagegen wären oder ohne Wissen der Eltern.
Wir helfen in erster Linie psychologisch und therapeutisch, aber auch, weil wir das Netzwerk gut kennen. Es gibt Hilfsmöglichkeiten wie zum Beispiel das Frauenhaus, wo Mütter mit Kindern untergebracht werden und auch einen äußeren Schutz haben. Wir versuchen hier die Mütter so weit zu stärken, dass sie den Mut fassen, sich zu trennen oder sich ein anderes Leben vorzustellen. Oder wirklich den Mut fassen, zu verstehen, dass Gewalt in ihrem Leben keinen Platz hat. Und auf der anderen Seite arbeiten wir hier aber auch mit Vätern und natürlich mit den Kindern und Jugendlichen. Wir haben täglich einen Krisendienst und sind jederzeit ansprechbar. Alle Informationen finden sich auch auf unserer Website!

Häusliche Gewalt ist körperliche Gewalt, aber auch psychische Gewalt, richtig?
Ja, beides. Psychische Gewalt geht mit sehr viel Erniedrigung einher. Bei Trennungen zum Beispiel, ist eine Drohung wie „Wenn du dich trennst, nehme ich dir die Kinder weg“ psychische Gewalt. Oder wenn Väter massiv finanziellen Druck ausüben wie „Du wirst schon sehen, wenn du dich trennst, du wirst keinen Pfennig von mir kriegen“ – auch das ist alles psychische Gewalt.

Ist Häusliche Gewalt ein gesellschaftliches Problem?
Die Gesellschaft sollte ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass Gewalt, auch Häusliche Gewalt, keine Privatsache ist. Häusliche Gewalt hat insgesamt eine Auswirkung auf die Gesellschaft. Kinder, die in Familien mit Häuslicher Gewalt aufwachsen, können sich viel weniger konzentrieren, zeigen weniger Lernbereitschaft. Sie sind ständig in innerer Not, da sie nicht wissen, was Zuhause gerade passiert. Wenn alle weggucken, dann fällt es dem Einzelnen bzw. der Einzelnen unglaublich schwer zu sagen „Hallo, ich erlebe hier Gewalt“. Aber wenn alle hingucken, dann kann nichts bagatellisiert werden und dann fällt es leichter zu sagen: Ich brauche jetzt Unterstützung, ich erlebe Gewalt.

Nimmt Häusliche Gewalt zu?
Ich bin Diplompsychologin und psychologische Psychotherapeutin und im Kinderschutzzentrum seit 23 Jahren tätig. Und ich kann nur sagen: Häusliche Gewalt wird nicht weniger.

Gibt es noch eine persönliche Betroffenheit bei Ihnen?
Wenn ich gar keine persönliche Betroffenheit mehr hätte, dann könnte ich hier nicht mehr arbeiten. Dann wäre ich weder für die Kinder und Jugendlichen, noch für die Mütter und Väter, die zu uns kommen, nützlich – denn alle haben großes Leid. Sie tragen einen schweren Lebensrucksack und es trifft mich immer wieder zu sehen, wie sich Gewaltstrukturen aufbauen, auch über Generationen, und wie leidvoll es für alle Beteiligten ist und wie jeder in sich eine Sehnsucht hat nach Familie, nach Zugehörigkeit, nach einem sicheren Ort. Und der sichere Ort sollte ja in der Familie sein.

Das Kinderschutz-Zentrum Kiel ist eine Fach- und Kriseneinrichtung im Problemfeld sexualisierte, körperliche, psychische und häusliche Gewalt gegen Kinder und Jugendliche sowie Vernachlässigung von Kindern und Jugendlichen. „Wir verstehen uns als Übersetzer der kindlichen Belastungszeichen an die Eltern und Fachkräfte mit dem Ziel, dass Eltern und Fachkräfte die gewaltbelastete Situation aus Sicht der Kinder betrachten und verändern können.“

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