Eine Reise zurück zum Anfang
Ich war der Frühstückseinladung meines Freundes Karlheinz gefolgt – nicht nur mit knurrendem Magen, sondern auch neugierig, um was es sich wohl handele, das er so gerne einmal mit mir besprechen wolle. Nach dem zweiten Brötchen wusste ich mehr. Seine Enkelkinder hatten ihm gesagt: „Opa, du hast so viel zu erzählen. Eigentlich solltest du das mal alles aufschreiben.“
Eine Reise zurück zum Anfang
Doch so einem Wunsch nachzukommen, bedeutet nicht nur ein ordentliches Stück Arbeit. Die Reise zurück zum Anfang kann einem Menschen abverlangen, Schicht für Schicht abzutragen und dabei auch das freizulegen, was man durch Trauerarbeit, teils auch Verdrängung einst so sorgsam verpackt hatte. Ich musste nicht lange darüber nachdenken, ob ich Karlheinz dabei helfen möchte. Handschlag überm Butterbrot.
VIELE PUZZELSTÜCKE
Will man die darauffolgenden Monate auf Zahlen und Fakten herunterbrechen, kommen wir beide auf zwölf Wochenenden, gut 22 Stunden Sprachaufnahmen, vermutlich zwei Bleche Apfelkuchen und zehn Liter Tee, so manche Träne über den Verlust geliebter Menschen und versäumter Chancen, die der Zweite Weltkrieg Karlheinz Stegemann genommen hat, aber auch die eine oder andere Träne vom Lachen, weil das Leben an sich eben auch voll freiwilliger und unfreiwilliger Komik steckt. Uns beide trennen fast vier Jahrzehnte und Lebenserfahrungen, die von vollkommen anderen Bedingungen geprägt sind. Unsere politischen oder religiösen Ansichten sind nicht deckungsgleich. Und doch verbindet uns so vieles: ein stabiles Wertesystem, die Begeisterung für Norddeutschland und Apfelkuchen zum Beispiel, und eine Freundschaft, die über die Arbeit an seinen Memoiren hinweg noch tiefer geworden ist.
Er hat mich nicht nur auf eine Reise in die Vergangenheit genommen, sondern mich an den vielen Facetten seines Lebens teilnehmen lassen. Ich fühle mich geehrt, bin beeindruckt, gerührt und dankbar. Alles das, was „unter uns“ gesagt wurde, wird natürlich auch unter uns bleiben. Ehrensache. Jedes Mal, wenn wir zusammengesessen haben, kamen weitere Puzzlestücke seines Lebens und seiner Persönlichkeit hinzu: eine von Arbeit und Entbehrungen geprägte Kindheit auf dem Land, nur schemenhafte Erinnerungen an den Vater, der in den Krieg ziehen musste und, wie auch der älteste Bruder, nie zurückkehren sollte, die Karriere bei der Bundeswehr und in der Landespolitik, die
berufliche Laufbahn vom Handelsvertreter zum erfolgreichen Unternehmer, die Zeit als Kassenwart des THW Kiel oder als begeisterter Reiter und Golfspieler, das Leben als Weltenbummler, als Familienvater, Großvater und Urgroßvater …
Nach sieben Monaten war die Textarbeit abgeschlossen. Dann blätterten wir uns gemeinsam durch Fotoalben, diskutierten die Cover-Gestaltung und Details wie Schriftgröße und Papierstärke. In die Freude, bald ein frisch gedrucktes Buch in den Händen zu halten, mischte sich sofort ein bisschen Wehmut. Apfelkuchen werden wir auch weiterhin zusammen essen, jetzt da er seinen Kindern, Enkeln und Urenkeln seine Lebensgeschichte überreicht hat. Aber die intensive Zusammenarbeit an diesem Projekt wird uns beiden fehlen.
Karlheinz Stegemann ist dem Wunsch seiner Enkelkinder, sie durch Erinnerungen an den wichtigsten Etappen seines Lebens teilnehmen zu lassen, nachgekommen – und hat sich dabei einer keineswegs einfachen Aufgabe gestellt, nämlich den Fragen: Was wünsche ich mir eigentlich, meinen Nachkommen von mir zu überlassen? Welches Bild verdichtet sich aus dem Gelesenen? Und was kann ich ihnen durch meine Erfahrungen mit auf den Weg geben?
TEXTAUSZUG Auf der A7 zwischen Schleswig und Flensburg donnern im Sekundentakt die Autos und Lastwagen vorbei und schenken den vorbeifliegenden Waldstücken wenig Beachtung. Viel Zeit hat heute kaum noch jemand. Doch etwas weiter rechts, am anderen Ende der Felder, wohin der Straßenlärm nicht mehr vordringt, ticken die Uhren tatsächlich ein wenig langsamer. Wenn die Häuser heute auch zahlreicher, die Landmaschinen moderner und die plattdeutschen Unterhaltungen seltener geworden sind, seinen Charme hat sich das südliche Angeln bewahrt. Noch immer prägen Ackerland, die klare Sicht und frische Luft die Region. Es mag dem einen heute drei Buchstaben wert sein (j-w-d) und, mit etwas Glück, drei Balken beim Handy-Empfang. Einem anderen, so wie mir, ist es der Inbegriff von Heimat und Idylle. Seiner Abgeschiedenheit und Gemächlichkeit hätte selbst der Krieg nichts anhaben können – hätte er sich nicht Nübels Väter, Brüder und Söhne geholt. Von dem Dorf namens Nübel ist erstmals 1196 zu lesen. Die kleine Gemeinde liegt direkt am Langsee, etwa fünf Kilometer nördlich von Schleswig. Nübels evangelisch-lutherische Marienkirche hat sich als ältester Backsteinbau Angelns bis weit über die Region hinaus einen Namen gemacht. Im Ersten Weltkrieg musste das historische Gotteshaus seine Orgelpfeifen, im Zweiten Weltkrieg eine seiner Glocken hergeben. Doch selbst wenn das Bauwerk mittlerweile wegen Einsturzgefahr gesperrt ist, sie wird noch weitere Generationen überdauern und Krisenzeiten die Stirn bieten. Kaum hundert Schritte weiter steht ein weiß getünchtes, reetgedecktes Haus mit hölzernen Querstreben an den Fenstern. Hier und heute sieht es genauso aus wie damals am 7. Februar 1936. An jenem ruhigen, kalten Wintertag wurden die Elstern im Garten von einem schreienden Säugling aufgescheucht. Da war ich nun also. […] Für meine Hausgeburt war eine Hebamme aus Schleswig angereist. Ich war das sechste Kind, das meine Mutter auf die Welt brachte, – und durchaus willkommen, wenn auch alles andere als geplant. So zumindest ließ man es mich später spüren. Denn angesichts des Kummers, den meine Mutter kurze Zeit später erfahren sollte, betrachtete sie mich als ein Geschenk des Himmels. „Gut, dat ik di heff“, sagte sie oft zu mir, und ich erinnere mich daran, wie sich der Stoff ihrer Schürze an meiner Wange anfühlte, wenn sie mich an sich drückte. […]
Textauszug
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