Solidarität ist das neue Miteinander – über eine Jungenfreundschaft und das Gefühl anzukommen

,,Zuhause ist, wo wir zusammen sein können."
Durch die Aktion #gemeinsam solidarisch lernen sich David aus der Ukraine und der Sohn Axel unserer Autorin Tina Ott in Kiel kennen. Hier erzählt sie die Geschichte einer Jungen-Freundschaft, die Geschichte der Eltern von David und die Geschichte einer selbst erlebten neuen Freundschaft.
Solidarität mag den Verlust seines Zuhauses und die Ungewissheit über die Zukunft nicht ausgleichen. Aber sie kann neuen Mut & Hoffnung wecken & das Unerträgliche erträglich machen.
Vorspann: Warten in Kiel
Nur wenige Wochen nach Beginn des Angriffskrieges auf die Ukraine bringt sich Kiel in Stellung: Gemeinschaftsunterkünfte, medizinische Versorgung, Verpflegung. Auch die Schulen bereiten sich umgehend darauf vor, geflüchtete Mädchen und Jungen in den Unterrichtsalltag zu integrieren und ihnen trotz Sprachbarriere den Neustart in einer vollkommen fremden Umgebung so leicht wie nur irgend möglich zu machen.
Schüler Helfen Leben (SHL), eine Organisation von Jugendlichen für Jugendliche, die Jugend- und Bildungsprojekte im In- und Ausland betreibt, ruft im März unter dem Motto #gemeinsam solidarisch eine Paket-Aktion ins Leben, an der sich auch die Schulklasse von meinem Sohn Axel (9) beteiligt. Er weiß noch genau, was er in seinen Schuhkarton gepackt hat: „Stifte, Malblock, Radiergummi und Anspitzer, Kuscheltier, Spielzeugauto, eine warme Mütze und einen Brief mit unserer Telefonnummer, damit wir uns auf dem Spielplatz verabreden können. Und dann haben wir gewartet.“
Aufbruch aus Odessa
Tadevos und Ajkanusch stammen aus Armenien, Herzstück der gebirgigen Kaukasusregion zwischen Europa und Asien und Wiege einer der ältesten christlichen Kulturen. Anders als früher lebt man heute immer seltener als Großfamilie an einem Ort, da erwachsene Familienmitglieder in Städte abwandern, um Geld zu verdienen – meistens im Ausland. Hinzu kommt, dass die ehemalige Sowjetrepublik seit Generationen ein politischer Zankapfel ist. Der sogenannte Bergkarabach-Konflikt provoziert immer wieder aufs Neue Krieg, vor dem schließlich auch Tadevos und Ajkanusch eines Tages fliehen. In Odessa, einer ebenso geschichtsträchtigen wie schönen ukrainischen Hafenstadt am Schwarzen Meer bauen sie sich ein neues Leben auf, arbeiten gemeinsam in einem Restaurant und gründen schließlich eine eigene Familie. Nach 19 Jahren kommt der Krieg in ihr Leben zurück.
Die Angst um ihr Kind lässt sie nicht zögern. Sie packen das Nötigste in Taschen und begeben sich mitten im Winter auf die Flucht – mit Bus, Bahn, per Anhalter, zu Fuß. Nach zwei Nächten unter freiem Himmel erkranken Mutter und Kind so stark, dass sie Wochen brauchen werden, um sich davon zu erholen. Aber: Sie sind alle drei zusammen. Sie wählen Kiel als Zielort, da es vor einigen Jahren bereits Freunde aus der Heimat dorthin geführt hat.
Dankbar für Schutz und Hilfe seitens der Behörden und Kieler*innen, macht sich die Familie mit dem Gedanken vertraut, hier ein weiteres Mal bei Null anzufangen. Noch versteht David nicht, warum sie hierher gekommen sind – und warum diese Reise so lange dauert. So richtig gut gefällt ihm das „Hotel“ nämlich nicht. Aber die meiste Zeit ist David fröhlich, wenn er am Wasser entlangflitzt, im Supermarkt Kekse aussuchen darf oder als er Post bekommt: „Junge, 5 – 8 Jahre“ steht auf dem Paket geschrieben, das David mit großen Augen von Schülern Helfen Leben entgegennimmt. Ein Junge namens Axel möchte sich nun also mit ihm auf dem Spielplatz verabreden, und da muss David nicht lange überlegen! Und so klingelt Anfang April bei uns das Telefon.
Ankommen: Neue Freunde
Mittlerweile treffen sich unsere beiden Familien regelmäßig auf dem Spielplatz. Unsere beiden Jungs bringen sich gegenseitig Wörter in ihrer Sprache bei: komm mit, warte, Okay, Danke, Freund … Obwohl sie sich auch ohne Worte verstehen.
Im Juli gab es zu Davids fünftem Geburtstag ein Fest im Schrebergarten der Freunde. Auch wir waren eingeladen. Wir Frauen bereiteten Salate und Beilagen zu, die Männer brutzelten Schaschlik am Grill, und die Kinder tobten im Garten. Am reich gedeckten Tisch wurde in verschiedenen Sprachen durcheinandergesprochen – Deutsch, Armenisch, Russisch, die Sprache, mit der David in Odessa aufgewachsen ist. Beim Lachen, gemeinsamen Anstoßen und dem Herumreichen der Schüsseln sprechen sowieso alle dieselbe Sprache. Es ist so schön, diese familiäre Atmosphäre mitzuerleben, die traditionelle Küche kennenzulernen, aber vor allem David und seine Eltern so glücklich zu sehen. Bei jedem Blick in die Runde rückte ins Bewusstsein, wie viel ein Mensch doch zu ertragen vermag, wenn man Freunde um sich hat – ob alte oder neue.
Aktuelle Herausforderung: Wohnung gesucht
Da in der Gemeinschaftsunterkunft viele Kulturen auf engstem Raum zusammenleben und somit ein gewisses Konfliktpotenzial den Alltag begleitet, ist bei Davids Eltern der verzweifelte Wunsch nach vier Wänden nur für sich gewachsen. 60 bis 75 Quadratmeter, maximal 610,50 Euro Kaltmiete – die behördlichen Vorgaben sind klar formuliert. Leider gibt dies der aktuelle Wohnungsmarkt nicht her. Paradox: Findet sich keine infrage kommende 3-Zimmer-Wohnung*, muss die Familie in ihrer jetzigen Ein-Zimmer-Unterkunft bleiben. Doch wie lange es auch dauert, ein Zuhause zu finden, seinen Freund Axel wird David nicht mehr verlieren. b
*Die Redaktion leitet die Infos weiter, sollten Sie eine Möglichkeit kennen. Danke! info@woman-inthecity.de
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